Die Insel wird verrissen

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Murillo
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Die Insel wird verrissen

Beitrag von Murillo »

ACTIONFILM "DIE INSEL"

Klonst du noch oder lebst du schon?


Von David Kleingers

Hauruck-Regisseur Michael Bay versucht sich mit dem Gentechnik-Thriller "Die Insel" an einer Kreuzung aus rabiatem Actionspektakel und zeitkritischer Science-Fiction. Was als viel versprechendes Experiment im Genrekino beginnt, endet allerdings in einem kindischen Klonkrieg ohne Konsequenz.

Obschon historisch, theoretisch und erst recht ökonomisch hundertfach widerlegt, feiert der Mythos des allmächtigen Auteurs im Kino immer wieder fröhlich Urständ. Natürlich ist die Bedeutung der Person im Regiestuhl nicht zu unterschätzen, und selbstverständlich kann es lohnend sein - um im Duktus unverbesserlicher Autoren-Apologeten zu bleiben -, über den letzten Scorsese, den neuen Woody Allen oder den nächsten Wong Kar-Wei zu räsonieren. Aber als ausschließliche Sicht auf die industrialisierte Kunst des Filmemachens ist diese Melange aus marktstrategischem Geniekult und halbakademischer Fanmeierei nicht nur untragbar, sondern nervt zudem gehörig.

Umso mehr Spaß macht es da, Anhänger des Autorenkults mit einem Verweis auf Michael Bay zu ärgern. Denn selbst wenn sie den kassenträchtigen Hauruck-Regisseur von "Die Insel" partout nicht in den Pantheon ihrer schöngeistigen Meister lassen wollen, so erfüllt Bay genau betrachtet doch alle Mitgliedsbedingungen. Denn seit Jahren arbeitet er sich konsequent am Subgenre des Hochglanz-Actionreißers ab, sein Verleih titelt längst ganz Auteur-like "Ein Film von Michael Bay" und wer es darauf anlegt, kann im krachlauten Œuvre des einstigen Werbefilmers problemlos charakteristische "signature shots" ausmachen: Schwarze Hubschrauber vor der Abendsonne, endlos ausufernde Explosionen in Zeitlupenoptik, Liebesszenen, die mit fiesen Rockballaden unterlegt sind. Michael Bay hat sehr wohl eine Handschrift, auch wenn diese nicht unbedingt schön anzusehen ist.

Traumlos im Trümmerland

Wer Arthouse sagt, muss halt auch Blockbuster sagen können. Und tatsächlich ist "Die Insel" der bislang ambitionierteste Film, für den Michael Bay als Regisseur mitverantwortlich zeichnet. Dafür sorgt allein die Ausgangsidee des futuristischen Thrillers, der sich zunächst in die Traditionslinie sozialkritischer Science Fiction der sechziger und siebziger Jahre stellt: In einem von der Außenwelt abgeschotteten Gebäudekomplex bereiten sich die letzten Überlebenden einer globalen Umweltkatastrophe unter dem strengen Regiment des Wissenschaftlers Merrick (Sean Bean) auf die Wiederbesiedlung der Erde vor. Eine Lotterie entscheidet, welche der offenbar durch den Weltuntergang traumatisierten - und daher auf dem Entwicklungsstand junger Teenager befindlichen - Bewohner als nächstes auf die titelgebende Insel reisen dürfen, wo sie ein sorgloses Leben an unverseuchten Stränden erwartet.

Auch Lincoln Sex-Echo (Ewan McGregor) und Jordan-Four-Delta (Scarlett Johansson) sehnen sich nach dem post-apokalytischen Paradies unter Palmen, doch mit zunehmender Wartezeit wird Lincoln immer rastloser. Nicht genug damit, dass seine aufkeimende Liebe zu Jordan einen Verstoß gegen das rigide Regelwerk der Anlage darstellt, muss er sich zusätzlich mit kryptischen Alpträumen herumplagen. Auf der Suche nach Antworten schleicht sich Lincoln immer wieder in den für ihn gesperrten Versorgungstrakt der Anlage, wo er mit dem lakonischen Mechaniker McCord (Steve Buscemi) eine verbotene Freundschaft unterhält.

Ausbruch aus der Stammzelle

Bei einem seiner Streifzüge entdeckt Lincoln durch Zufall das ungeheuerliche Geheimnis seiner Existenz: Die vermeintlich verödete Außenwelt erfreut sich nämlich bester Gesundheit. Er selbst und alle anderen Lotterie-Kandidaten sind keineswegs privilegierte Überlebende, sondern Klone illustrer Persönlichkeiten, die Merrick ihre Erbanlagen zwecks Lebensverlängerung anvertraut haben. Wer für die Insel ausgelost wird, landet auf dem Operationstisch und wird buchstäblich ausgeschlachtet, derweil Merricks wohlhabende Kundschaft aus Politik, Wirtschaft und Prominenz nicht ahnt, dass ihre genetisch maßgeschneiderten Spendernieren, -herzen und -lungen aus keinem Reagenzglas kommen, sondern denkenden und fühlenden Menschen entrissen werden: Klonst du noch oder lebst du schon?

Folgerichtig fliehen Lincoln und die just für die Insel gebuchte Jordan aus diesem abgründigen Ikea-Markt für Körperhaushalte, was sicherlich das Beste für die beiden widerspenstigen Opferlämmer ist, aber leider das Schlechteste für die so vielversprechend eingeführte Thematik des Films bedeutet. Denn kaum hat sein Heldenpaar den unterirdischen Kerker hinter sich gelassen, schaltet Regisseur Bay prompt auf Action-Autopilot und verlagert das Geschehen vom existenziellen Drama in jene überdimensionierte Sandkiste, die schon seine naiven Allmachtsphantasien "The Rock", "Armageddon" und "Pearl Harbor" beheimatete.

Anstatt also die vielen reizvollen Steilvorlagen eines Stoffs zu nutzen, der von Platos Höhlengleichnis bis zur aktuellen Stammzellendebatte so ziemlich jedes Fass aufmacht, hetzt der Film sein durchaus sympathisches Darstellergespann durch eine wenig futuristische Großstadtkulisse, verfolgt von schwarzen Hubschraubern, schwarzen Jeeps und einem schwarzafrikanischen Super-Söldner (Djimon Hounsou), der - so viel darf verraten werden - moralische Zweifel an Merricks Mission bekommt.

Ethikrat rabiat

Ewan McGregor und Scarlett Johansson schlagen sich mehr als redlich durch das laute Spektakel, scheinen aber auch dem verschenkten Potential der Geschichte nachzutrauern. Wie zum Beispiel in der Szene, in der die geklonte Jordan kurz das Kind ihrer todgeweihten Namens- und DNA-Geberin sieht, oder in jenem Moment, in dem McGregors doppelter Lincoln eine ganz eigene Spiegelphase durchleben muss. Aber Bays pyrotechnisch aufgerüsteter Ethikrat regiert nun mal rabiat, weshalb im unausweichlichen Finale kein Platz für moralische oder psychologische Mehrdeutigkeiten bleibt. Letztlich sprengt er seinen Film damit in zwei unvereinbare Teile: Sucht "Die Insel" erst die suggestive Nähe zu ideologiekritischen Paranoiaklassikern wie "THX 1138" (1971), "Soylent Green" (1973) oder "Logan's Run" (1976), wird sie später zum Schauplatz eines mit kindlicher Logik geführten Klonkriegs ohne echte Konsequenz.

Am Ende ist Bays missglückter Spagat dennoch allemal intellektuell stimulierender als breitbeinige Ölbohrleute im Weltraum ("Armageddon") oder martialischer Bombenkitsch über Hawaii ("Pearl Harbor"). Aber gedankt hat es ihm zumindest das US-Publikum nicht: "Die Insel" ging am Startwochenende an der Kasse unter, weshalb zu befürchten steht, dass Michael Bay als Auteur der knalligen Oberflächenästhetik wieder zur alten Handschrift zurückkehren wird - und bis in alle Ewigkeit seine alten Erfolge klont.
(www.spiegel.de)


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

Neulich im Waschsalon:
"Nachdem mir bereits "Network" sehr gut gefallen hat, gewinne ich langsam wirklich Respekt vor Sidney Lumet."
"Du unnützer nichtsbringender mittzwanziger Fliegenschiss bekommst "langsam" Respekt vor Sidney Lumet?"
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