Spiegel verreißt Wenders-Film

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Murillo
die graue Eminenz
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Spiegel verreißt Wenders-Film

Beitrag von Murillo »

Alles, was ödet

Joachim Lottmann über Wim Wenders, die ihm hörige "Generation Cannes" und Wenders' neuen Film "Don't Come Knocking"

Wim Wenders ist ein Darling. Wer ein Herz hat, muss ihn mögen. Nun ist er 60, sieht aber aus wie ewige 43. Glückwunsch!

So weit die guten Nachrichten. Natürlich kommt die Wirklichkeit in seinen Filmen nicht vor. Zum Beispiel die der Hunderttausende junger Pilger, klassenlos, angstfrei und inspiriert, die aufgekratzt durch Köln ziehen, am Cinemaxx-Kino vorbei, kreischen, jubeln, sich umarmen, singen.

Von diesen Jungen kennt ihn niemand, aber das macht nichts, die Alten der staatstragenden Generation Sechzig plus kennen ihn alle. Sie lieben seine Filme. Sie fördern ihn. Wenders selbst hat mit dem semi-korrupten System der deutschen Filmförderung wenig oder nichts zu tun. Aber er ist ihr Gesicht, ihr Feigenblatt, ihr schlechter Geschmack, ihre "Kunst", nennen wir sie "Generation Cannes". Dort, in Cannes, wurde "Don't Come Knocking" 20 Minuten lang mit stehenden Ovationen gefeiert.

Mit den Mitteln, die die Generation Cannes in 30 Jahren kassiert hat, könnte man "Live Aid" ersetzen und halb Afrika wieder aufbauen. Staatliche Gelder, die pseudopoetische Machwerke schmieren, gibt es allerdings auch in anderen Bereichen, es ist Teil der deutschen Krankheit. Der Wim Wenders der Literatur heißt Peter Handke, zum Beispiel. Nebenbei ein guter Freund vom Wim - den unsäglichen Schwulst in "Der Himmel über Berlin" hat er geschrieben, vom Kind, als es Kind war und nicht wusste, dass es Kind war, und so weiter.

Aber, mal im Ernst, was sind das eigentlich für Filme? Worum geht es genau?

Der Meister hat ein seltsames Faible für knorrige, knarzige amerikanische Männer. Auch seine Frauen erkennen wir sofort: unendlich ernste, humorlose, ungeschminkte Schönheiten, die aus allen gesellschaftlichen Bezügen herausfallen. Sie schweben über der Erde, sind sozusagen Heilige. Das kann man mögen, man kann es Edelkitsch nennen und trotzdem oder gerade deswegen mögen; ich mag diese Figuren nicht. Sie sind mir unsympathisch, ich erkenne die Vorlagen. Missgünstige deutsche Single-Frauen, antriebslos, frustriert. Die Vorlage der Männer sind eher verbitterte Kriegsheimkehrer.

Ein Autorenfilmer darf das. Also seine Traumata plündern und ausstellen. Scheußlich wird es, wenn er seine Kindheit immer wieder - ausgerechnet - auf die heutigen USA projiziert. Auch im neuen Film hat man nach zehn Sekunden alles beisammen, was ödet: alte Männer, Wüste, Amerika, blöde Klampfmusik. Und natürlich Film im Film. Das soll wohl ein Hauch Avantgarde werden, ist aber eben die von 1959, somit Après-Garde. Wen interessiert so was noch?

Ein zerrütteter Western-Star ist nach einer wieder mal durchzechten und anonym durchvögelten Nacht am Drehort verschwunden. Moment mal, Western-Star, heute? Ist John Wayne nicht längst tot? Und durchvögeln, im siebenten Lebensjahrzehnt - was wohl die singenden Jungfrauen auf der Kölner Domplatte dazu sagen? Sex ist doch so was von over, jedenfalls für junge Frauen, jedenfalls Sex mit Greisen.

Na, geschenkt. Dann brechen die fünfziger Jahre auch auf Schildern, Schriftzügen, schrillen Locations in den Film ein. Wenders ist wieder in seiner Puppenstube, er kann's nicht lassen. Eine engelhafte Blonde (Sarah Polley) tritt auf, die mit der Urne ihrer toten Mutter spricht. Botschaft: Alle Menschen sind allein. Auf dem Filmset, es wird ja im Film ein Film gedreht, sind alle Leute viel zu alt. Irgendein alter Darsteller aus der Ur-Soap "Dallas" mimt den Regisseur und befehligt schlohweiße Scriptgirls. Auch der Hauptdarsteller, besagter Film-Cowboy, spielt einen über 60-Jährigen, der wieder bei seiner über 80-jährigen Mutter einzieht (Eva Marie Saint, zuletzt 1959 in "Der unsichtbare Dritte" aufgefallen).

Ja, das liebt Wim: Schauspielerinnen, die er mit zehn bewunderte, in seine Filme zu holen. Und in Autos zu setzen, die er als Wiking-Modelle sammelte.

Diese Filme haben fast immer Überlänge. Das soll beweisen, dass sie sich nicht der Norm beugen. "Im Lauf der Zeit" brachte es auf 176 Minuten, subjektiv gefühlte Überstunden sind es auch diesmal.

Der Held kehrt in sein Kinderzimmer zurück, in dem seine Mutter 40 Jahre lang nichts verrückt hat. In Nevada! Da macht der deutsche Kleinstädter aber Augen!

Nun geht's los. Glücksspiel, Saufen, Stiefel mit Sporen - der Held lässt den Proleten raus. Aber immer noch absolut wortkarg, verbittert, eben der Gulag-Heimkehrer aus Schabbach. Er spielt mit den Automaten wie ein vernachlässigtes Schlüsselkind, und genau dieses Niveau hat er auch. Schon nach dem ersten Bier wird er voll doof, randaliert, krakeelt, wird von der Polizei festgenommen. Die Uralt-Mama holt ihn raus.

Als Nächstes und unvermeidlich zurzeit: das Rührstück vom wiedergefundenen Kind. All die 50- bis 60-jährigen Kulturschaffenden, die "in diese Welt keine Kinder setzen" wollten, als es an der Zeit war, phantasieren sich nun für sich und ihre Generation nicht entdeckte, nicht gebeichtete Kinder herbei. Also Sam Shepards Mom - nicht die Kindsmutter - erzählt ihm, dass er einen erwachsenen Sohn hat. Den Sohn sucht er nun, den findet er nun.

Und der Sohn dreht durch - warum, wird nicht begreiflich. Vor allem: warum er so lange durchdreht. Gute 45 Minuten lang. Und seine Mutti (Jessica Lange) gleich mit. Als Shepard ihr einen nachträglichen Heiratsantrag macht, legt sie eine Schrei-Arie hin, die zum Widerlichsten und Unsinnigsten der Filmgeschichte gehört und die ihr sicher eine Oscar-Nominierung einbringt.

Doch der Gerontokratenfilm ist immer noch nicht zu Ende. Shepard tuckert mit einem 1953er Chevrolet ohne alle Gebrauchsspuren durch ein Amerika, das nichts weiß von der enormen kulturellen Dynamik, in der es heute tatsächlich steckt.

Nicht Scarlett Johansson becirct den Helden, sondern ein verspäteter Seventies-Punk-Klon, den man selbst in Herne oder Salzgitter nicht mehr finden würde. Nicht Jonathan Franzen inspiriert ihn oder wenigstens Eminem, sondern Wolfgang Borchert. Und natürlich ist der wiedergefundene Sohn ein Rocksänger aus dem Theaterfundus und sülzt die Musik von Bill Haley ins klobige Fünfziger-Jahre-Mikro.

Zwischendurch schläft Shepard - richtig, der Alte - mit drei Teenager-Girls gleichzeitig. Merke: Sex macht nicht glücklich. Auch sein Sohn zitiert ein paar Nebenszenen lang aufs Beknackteste das Elend von Sex, Drugs and Rock'n'Roll. Vater und Sohn stecken in der gleichen Alk- und/oder Drogenmisere, erkennen sich im anderen, mögen sich auch ohne Worte: Happy End.

Bäh! Was für eine Welt, die von Wenders! Wie viel schöner scheint plötzlich die reale zu sein. Aus dem Kino tretend, ziehen die endlosen Kolonnen der jungen Gläubigen an mir vorbei. Was für Gesichter, wunderschön, mit glänzenden Augen (nicht mehr die hässlichen Entlein früherer evangelischer Kirchentage), und ganz ohne Rock'n'Roll!

Stattdessen haben zwei junge Mädchen Holzgitarren umgehängt und singen nach der Melodie "Ach du lieber Augustin" selbstgeschriebene Lieder der Freude über Papst Benedikt XVI., und andere Pfadfinderinnen fallen mit ihren ebenso klaren Jungfrauenstimmen ein. Der Kino-Vorraum ist erfüllt von diesen heiligen Lauten. Zehntausende ziehen vorüber, die meisten lachen, umarmen sich, zeigen ihre Gefühle. Keine Frau muss Angst haben, falsch verstanden zu werden. Zu Millionen flüchtet die junge Generation vor der allgegenwärtigen Pornografisierung der Gesellschaft unter den Schutz der Kirche.

Dagegen sieht Wim Wenders plötzlich aus wie ein alter Sack. Entschuldigung.
(http://www.spiegel.de)
[hr]
Das muss wohl was persönliches zwischen diesem Lottmann und Wim Wenders sein. :mrgreen:


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

Neulich im Waschsalon:
"Nachdem mir bereits "Network" sehr gut gefallen hat, gewinne ich langsam wirklich Respekt vor Sidney Lumet."
"Du unnützer nichtsbringender mittzwanziger Fliegenschiss bekommst "langsam" Respekt vor Sidney Lumet?"
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