Sicko

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Detlef P.
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Sicko

Beitrag von Detlef P. »

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USA 2007
Regie: Michael Moore

"Für die einen ist er ein eitler Egomane und demagogischer Bilderpanscher, für die anderen ein genialer Widerstandsfilmer. Rechte beschimpfen ihn als Nestbeschmutzer, Linke schmähen ihn als populistischen Heuchler. Michael Moore polarisiert wie kein anderer. Seit der kleine, dicke Mann aus Flint, Michigan mit der Kamera auszog, um die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu filmen und ketzerisch zu kommentieren, ist er eine Mischung aus Popstar und Satiriker geworden.
In Filmen wie „Bowling for Columbine“ und „Fahrenheit 9/11“ polemisierte er gegen die Waffenvernarrtheit der Amerikaner und den Irakkrieg des George W. Bush, in Büchern wie „Stupid White Men“ oder „Volle Deckung, Mr. Bush“ stänkerte er gegen seinen erklärten Lieblingsfeind. Mit „Sicko“ startet in diesem Monat die fünfte von Moores spielfilmlangen „Dokumentationen“, die eigentlich eher „mockumentaries“, also Unterhaltungsreportagen, sind und kunterbunt Gags, Infos, arrangierte Szenen und assoziative Schnitte mischen. Diesmal geht es um die Misere des US-Gesundheitssystems, das sehr marktwirtschaftlich orientiert ist und Ältere und chronisch Kranke benachteiligt.

Moore betätigt sich darin einmal mehr in der Rolle, die ihn groß gemacht hat. Als Anwalt der kleinen Leute geht er gesellschaftlichen Missständen nach und deckt Korruption und Gaunereien von „denen da oben“ auf. Wobei grobe Überzeichnungen und eine extrem subjektive Sicht keineswegs ausgeschlossen, sondern ausdrücklich erwünscht sind: die Methode Moore.

Schon sein vielgelobter Erstling „Roger & Me“ aus dem Jahr 1989 funktionierte nach diesem Guerilla-Konzept. Der Film beschrieb, wie eine ungeheure Entlassungswelle in den Werken von General Motors zum gesellschaftlichen Niedergang der ehemaligen Automobilarbeiterstadt Flint, Michigan führte. Drei Jahre verfolgte Moore mit Kamera und Mikro bewaffnet den zuständigen Firmenboss Roger Smith, um ihn mit den wirtschaftlichen Folgen seines Handelns zu konfrontieren. Doch der Unternehmer zog es vor, lieber Fersengeld zu geben, wenn der komische Kauz mit Baseballkappe und Bierbauch aufkreuzte und lästige Fragen stellte. Moore wirkt dabei halb wie ein tapsiger Bär, halb wie ein durchgeknallter Hausmeister. Doch der Effekt ist genau kalkuliert. Immer wieder bezieht der Polit-Columbo die Position des naiv Fragenden, der seine Gesprächspartner gar nicht in die Enge drängen will, sondern ihnen sogar das Recht auf freie Meinungsäußerung zugesteht. Dass dabei zwischen Golfplatz und Weihnachtsfeier sinnige Tipps an die Arbeitslosen wie „Such dir einen Job“ oder „Das ist eine prima Gelegenheit, um neu anzufangen“ herauskommen, ist nicht Moores Problem.

Das subversive Gesellenstück „Roger & Me“ wurde mehrfach ausgezeichnet und gewann unter anderem den Publikumspreis auf der Berlinale. Moore drehte in der Folge die im „Roger“-Stil gehaltene TV-Show „TV Nation“ und seinen ersten Spielfilm „Canadian Bacon“, letzterer ein Totalflopp.

Dann zog der 20. April 1999 herauf, und an der Columbine Highschool von Littleton, Colorado fielen Schüsse. Die Schüler Eric Harris und Dylan Klebold töteten während des berüchtigten Schulmassakers 13 Menschen und begingen anschließend Selbstmord. Der brutale Gewaltexzess inspirierte Moore zu seinem nächsten großen Kinofilm „Bowling for Columbine“, der die Waffenvernarrtheit der Amerikaner thematisierte. „Columbine“ war der erste Dokumentarfilm, der seit 46 Jahren in den Wettbewerb von Cannes aufgenommen wurde, und er festigte nachhaltig Moores Ruf als kritischer Chronist der amerikanischen Gegenwart. Oder wie seine Gegner sagen würden: als „Shootingstar der westlichen Friedenshysterie“.

Moores Abrechnung mit den laxen Waffengesetzen der USA gewann in Cannes einen Sonderpreis der Jury und ein halbes Jahr später den Oscar für den besten Dokumentarfilm. Die Verleihung des Oscars nutzte Moore zur öffentlichen Verurteilung der kriegerischen Irakpolitik von George W. Bush („Schande über Sie, Mr. Bush!“).

„Bowling for Columbine“ wurde der bis dahin erfolgreichste Dokumentarfilm aller Zeiten. Moore lieferte darin ein Mentalitätsprofil der Amerikaner, das zu einem beunruhigenden Ergebnis kam: Die hohe Zahl der Gewaltverbrechen basiert auf einer Kultur der Angst, und diese Angst nahm nach den Anschlägen des 11. September 2001 noch einmal zu. So war es nur konsequent, dass er als Nächstes mit „Fahrenheit 9/11“ genau jenes nationale Trauma aufgriff, das die Amerikaner bis ins Mark erschüttert hatte. Es war Moores bislang radikalster Film, der ihm in Cannes die Goldene Palme und in den USA heftige Anfeindungen einbrachte.

„Fahrenheit 9/11“ war eine einzige Attacke gegen die Bush-Regierung, in der Moore die Wurzel allen amerika-nischen Übels sieht. Es war aber auch ein Film über die Einschränkung der Grundrechte und den Abbau der Freiheit unter dem Vorwand, ebendiese zu schützen. Kann ein solcher Film unamerikanisch sein, wie konservative Kreise argwöhnten? Wohl kaum. Ganz im Gegenteil, Michael Moore ist wahrscheinlich der patriotischste Amerikaner, mit dem man beim Barbeque über Gott, die Welt und Roger Smith plaudern kann.

Natürlich bedient er in seinen Filmen gängige Klischees über die kulturlosen Amerikaner und schießwütige Cowboys auf dem Kriegspfad. Doch wie die von ihm ebenfalls gern verwendeten Filmschnipsel aus dem TV dienen sie ihm lediglich als Spielmaterial seiner politischen Intentionen. Moore will ein starkes Amerika zurück. Ein gerechtes Amerika. Ein Amerika, in dem den freiwilligen Helfern des 11. September 2001 nicht die Behandlung der Atemwege verweigert wird, wie jetzt in „Sicko“ gezeigt. Moore hat ein verklärtes Bild von Amerika vor Augen, das von den Idealen der Gründerväter gar nicht so weit entfernt ist und in das vor allem dieser Präsident nicht passt.

Rechtzeitig zum US-Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2008 hat Moore daher bereits die Fortsetzung „Fahrenheit 9/11 1/2“ angekündigt, in dem es wieder um den Irakkrieg und Terrorismus gehen wird. „Die offizielle Trauerzeit ist vorbei“, so Moore. „Und es gibt einen Silberstreif am Horizont: George W. Bush kann von Gesetzes wegen nicht wiedergewählt werden.“ Stellt sich allerdings die Frage, was Michael Moore dann macht.


Michael Moores jüngste Doku-Reportage schildert die soziale Misere des US-Gesundheitssystems. Trotz der schwierigen Thematik ist „Sicko“ humorvoll und unterhaltsam. Wenn Moore allerdings Vergleiche mit der Gesundheitsversorgung in anderen Ländern zu Rate zieht, neigt er zu plakativem Grobschnitt. Dies betrifft insbesondere die umstrittene Kuba-Sequenz: Gemeinsam mit freiwilligen Helfern des 11. Septembers 2001, die an den Atemwegen erkrankten, aber die nötige Behandlung nicht finanzieren können, reist Moore zum Systemgegner Fidel Castro. Auf Kuba wird den Gastamerikanern wundersamerweise ein medizinischer Luxus ohnegleichen zu teil. Es ist nur zu offenkundig und geradezu peinlich, wie Moore sich hier vor den Karren einer propagandistischen Inszenierung spannen lässt. Wenn’s dem Bush-Bashing dient, ist Moore jedes Mittel recht." (www.cinema.de)

Michael Moore scheint nicht mehr so angesagt zu sein, wie noch vor ein paar Jahren. Immerhin ist sein neuester Film nicht mal mehr in die Top Ten der deutschen Kinocharts reingekommen.
Trotzdem ist der Film ungemein interessant, da er mal wieder ungeschönt die Wirklichkeit präsentiert. Leider tut er dies immer stärker im "Hollywood-Stil", in dem er Einzelschicksale zeigt und diese teilweise durch "passende" Atmosphäre und Musik unterstützt, und dadurch stark emotionalisiert, was für eine Doku eigentlich absolut unpassend ist.
Nichtsdestotrotz kann man auch bei diesem Film einiges über das amerikanische System lernen. Mit dem gewohnt lustigen Humor präsentiert. :mrgreen:


"Willst Du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten." (chin. Sprichwort)

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"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein." (Daniel J. Boorstin)

Wenn "2010" die Fortsetzung zu "2001" sein soll, dann ist "Sieben" das Prequel zu "8½". (Ich)

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Murillo
die graue Eminenz
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Beitrag von Murillo »

Ich fand den Film sehr unterhaltsam, und das obwohl er als Dokumentation nicht gerade vor Objektivität und sachlicher Fundiertheit strotzt (diese Formulierung sogar noch untertrieben).
Wenn es darum geht, das Leben (auch neben dem Gesundheitssystem) in europäischen Ländern darzustellen, übertreibt er meines Erachtens sogar teilweise sehr stark. Dabei werden sogar Theorien oder politische Verschörungsformeln angedeutet, bzw. impliziert, die in diesem Film eigentlich ein bisschen zu weit gehen.
Aber das kennt man ja von Michael Moore (wenn auch nicht in so ausgeprägtem Maße). Trotzdem hat mir der Film sehr gefallen.

Fazit: Nicht als Basis zu empfehlen, wenn man eine international vergleichende Studie über Gesundheitssysteme in seiner Doktorarbeit haben möchte. :mrgreen:
Aber als Unterhaltungsfilm und politisches Statement durchaus gut und weiterzuempfehlen.


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

Neulich im Waschsalon:
"Nachdem mir bereits "Network" sehr gut gefallen hat, gewinne ich langsam wirklich Respekt vor Sidney Lumet."
"Du unnützer nichtsbringender mittzwanziger Fliegenschiss bekommst "langsam" Respekt vor Sidney Lumet?"
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