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Filmfestspiele in Venedig 2005

Verfasst: Do 4. Aug 2005, 13:19
von Murillo
Sag' Goodbye zu Hollywood

Festivaldirektor Marco Müller setzt in seinem zweiten Jahr als Chef der Filmfestspiele von Venedig vor allem auf französische, italienische und asiatische Produktionen. In dem heute vorgestellten Wettbewerbsprogramm fehlt Hollywood ebenso wie ein deutscher Beitrag.

Rom - Im letzten Jahr, bei seinem Antritt als Direktor der Filmfestspiele von Venedig, hatte der ehemalige Produzent Marco Müller bewiesen, dass er das ehrwürdige Filmfest am Lido zu seinen Wurzeln zurückführen kann, ohne dabei auf Stars und publikumsträchtige Filme zu verzichten.

Bei der diesjährigen 61. Kino-Biennale (31. August bis 10. September) hat sich Müller, der zuvor die Festivals von Locarno und Rotterdam leitete, bei der Auswahl der Wettbewerbsfilme noch stärker auf den europäischen Raum konzentriert - und bedient damit kritische Stimmen aus Italien, die sich für mehr heimische Produktionen und weniger Hollywood ausgesprochen hatten. Tatsächlich stammen 14 der heute vorgestellten Wettbewerbsfilme aus Europa, fünf davon sind italienische Produktionen oder Koproduktionen.

Während im letzten Jahr noch Wim Wenders mit "Land of Plenty" im Wettbewerb vertreten war, so ist diesmal kein deutscher Beitrag dabei. Aber auch das amerikanische Kino muss sich mit wenigen Plätzen zufrieden geben, nur drei Wettbewerbsfilme stammen aus den USA, alle sind unabhängige Autorenfilme. Hollywood bleibt außen vor.

Mit "Goodnight and Good Luck", der Geschichte eines Journalisten, der sich gegen die Kommunistenjagd in der McCarthy-Ära stemmt, liefert US-Schauspieler George Clooney seine zweite Regie-Arbeit ab. Neben Clooney selbst spielen unter anderen Jeff Daniels und Robert Downey Jr. Nebenrollen. In der Hauptrolle ist David Strathairn zu sehen. Clooneys Kollege John Turturro reist mit seiner dritten Regie-Arbeit "Romance & Cigarettes" nach Venedig. Hauptrollen in dem schrägen Musical spielen Susan Sarandon, Christopher Walken, Kate Winslet und James Gandolfini.

Der New Yorker Independent-Filmer Abel Ferrara ("Bad Lieutenant") ist ebenfalls mit seinem neuen Werk im Wettbewerb vertreten, einer religiösen Parabel namens "Mary" mit Juliette Binoche und Matthew Modine in den Hauptrollen. "Mary" ist eine amerikanisch-italienische Koproduktion. Aus England kommen Terry Gilliams märchenhafter Abenteuerfilm "The Brothers Grimm" sowie "Shakespeare in Love"-Regisseur John Madden mit seinem Vater-Tochter-Drama "Proof" (mit Gwyneth Paltrow und Anthony Hopkins). Aus Frankreich reist Patrice Chéreau mit seinem Frauen-Drama "Gabrielle" an. Isabelle Huppert spielt die Hauptrolle.

Eröffnet wird das Festival am Lido von dem chinesischen Regisseur Tsui Hark ("Once upon a Time in China"), der seinen neuen Film "Seven Swords". Die Geschichte eines chinesischen Schwertkämpfers im 17. Jahrhundert läuft außer Konkurrenz. Im Wettbewerb hingegen sind der koreanische Regisseur Chan-wook Park ("Sympathy for Lady Vengeance") und der aus Taiwan stammende Filmemacher Ang Lee ("Tiger and Dragon"), der mit der kanadischen Produktion "Brokeback Mountain" in Venedig dabei ist. Der Film mit Jake Gyllenhaal und Heath Ledger in den Hauptrollen basiert auf einer Kurzgeschichte von E. Annie Proulx.

Als britisch-kenianisch-deutsche Koproduktion firmiert "The Constant Gardener" von Fernando Meirelles, die Verfilmung von John Le Carrés gleichnamigem Weltbestseller "Der ewige Gärtner" über illegale Pharmaversuche in Afrika.

Deutschland kann sich nur im Nebenprogramm platzieren. Altstar Werner Herzog präsentiert in der Reihe "Orizzonti" seinen halbdokumentarischen Film "The Wild Blue Yonder" über Astronauten, die im Weltall verloren gehen. Als weiterer deutscher Beitrag läuft in derselben Reihe "Die Große Stille" von Philip Gröning über Abgeschiedenheit und Schweigen im französischen Karthäuser-Kloster Grande Chartreuse.

Auch wenn Hollywood nicht dabei ist, mit den Stars wird es dieses Jahr am Lido schon klappen: Neben George Clooney sollen Anthony Hopkins, Gwyneth Paltrow, Susan Sarandon und Juliette Binoche ihr Erscheinen angekündigt haben.

Die Wettbewerbsfilme im Überblick:


"La seconda notte di nozze", Pupi Avati(Italien)


"O Fatalista", Joao Botelho (Portugal/Frankreich)


"Vers le sud", Laurent Cantet (Frankreich/Kanada)


"Gabrielle", Patrice Chéreau (Frankreich/Italien)


"Goodnight and Good Luck", George Clooney (USA)


"La bestia nel cuore", Cristina Comencini (Italien)


"I giorno dell'abbandono", Roberto Faenza (Italien)


"Mary", Abel Ferrara (Italien/USA)


"Les Amants réguliers", Philippe Garrel (Frankreich/Italien)


"Garpastum", Aleksey German Jr. (Russland)


"The Brothers Grimm", Terry Gilliam (Großbritannien)


"Changhen ge", Stanley Kwan (China/Hongkong)


"Brokeback Mountain", Ang Lee (Kanada)


"Proof", John Madden (Großbritannien/USA)


"The Constant Gardener", Fernando Meirelles (Großbritannien/Kenia/Deutschland)


"Espelho magico", Manoel de Oliveira (Portugal)


"Chin-jeol-han Geum-ja-ssi" (Sympathy for Lady Vengeance), Park Chan-wook (Korea)


"Romance and Cigarettes", John Turturro (USA)


"Persona non grata", Krzysztof Zanussi (Polen/Russland/Italien)


(www.spiegel.de)

Neues aus Venedig

Verfasst: Sa 10. Sep 2005, 20:32
von Murillo
Das Leben ist eine Schlammschlacht

Kurz vor Schluss protzt der Wettbewerb in Venedig mit zwei monumentalen Schmachtfetzen aus China und Russland - und der französische Film "Backstage" zeigt außer Konkurrenz eine wilde Kolportage-Story über einen Popstar und seinen glühendsten Fan.

Das Kino kann vielleicht nicht die Welt verändern - aber immerhin kann es die Weltveränderung sichtbar und begreiflich machen. Das ist nicht ganz das, was sich die allabendlich vor dem Festivalpalast antretenden globalierungskritischen Protestierer mit ihrem fröhlichen Krawall erhoffen, aber doch eine ganze Menge. Der russische Wettbewerbsbeitrag im Wettstreit um den Goldenen Löwen von Venedig heißt "Garpastum", stammt von Aleksey German jr. und zeigt: Die Welt von gestern war ein großes braunes Matschfeld.

"Garpastum" ist ein erstaunliches Werk. Ein Fußballfilm - und zugleich ein Historiendrama über das Ende des Zarenreichs, das zwangsläufig nicht ohne Mord und Totschlag vonstatten geht. Außerdem ein schmachtendes Melodram, in dem sich sehr junge Menschen unter Anleitung eines ziemlich jungen Regisseurs (er ist Jahrgang 1976) sehr anmutig an die Wäsche gehen. Und nicht zuletzt: Germans Film ist auf eine Art und Weise durchgestylt, die man nur betörend nennen kann; eine Orgie in Sepiafarben in langen Einstellungen, ein exakt choreographierter Reigen, der das Leben als eine einzige Schlammschlacht zeigt. Was ja vermutlich stimmt, weil sich die Menschen (zumindest in regenreicheren Gebieten) in den Jahrhunderten vor dem 20. auf sehr durchweichten Böden stritten und verliebten, umhalsten und niedermetzelten.

"Garpastum" ist ein lateinisches Wort. Es bezeichnet ein altertümliches Ballspiel, das dem heutigen europäischen Fußball angeblich nicht ganz unähnlich war. Der Regisseur German jr. aber stellt uns vier halbwüchsige Freunde vor, die 1914 im Schlamm von St. Petersburg Fußball spielen und von einem eigenen Spielfeld träumen. Nebenbei machen die beiden Brüder im Mittelpunkt der Handlung erste Sex-Erfahrungen, sehen den Krieg einziehen und staunen über die Gnadenlosigkeit der Welt. Aber von einer Handlung kann man nicht eigentlich reden, und das ist die Schwäche dieses wunderschönen Films. Er deutet immer nur an, verliert sich im Nebensächlichen, bis plötzlich brutal gemordet wird. Am Ende, nach zwei Stunden, hat man das Gefühl, mehr eine atmosphärisch satte Geisterbeschwörung beglotzt zu haben als eine Story mit Menschen aus Fleisch und Blut.

Rasanter Kino-Rock'n'Roll

Zu den Seltsamkeiten der Regentschaft des Venedig-Chefs Marco Mueller gehört es, dass im Hauptprogramm nicht bloß ein paar Filme nebenher laufen, sondern dass dort aus einem Pool von fast 40 Werken ungefähr gleich viele die Label "Wettbewerb" und "Außer Wettbewerb" tragen. Außerhalb der Konkurrenz zeigt zum Beispiel die Französin Emmanuelle Bercot, Jahrgang 1967, ihr waghalsig losdonnerndes Showgeschäftsdrama "Backstage". Eine von Roman Polanskis Frau Emmanuelle Seigner gespielte alternde Rockdiva besucht für eine Fernsehshow ein Teenagermädchen weit draußen im Provinz-Reihenhaus ihrer Familie - und dann wird der Star seinen Fan nicht mehr los.

Mit schöner Eindringlichkeit und einer sehr französischen Wucht widmet sich die Regisseurin dem bizarren Kampf zwischen der tablettensüchtigen, an einer zerbrochenen Liebschaft verzweifelnden Sängerin und ihrer nur am Anfang vor Begeisterung erstarrten Anhängerin. Mal stößt sie das Mädchen zurück, mal drückt sie es an ihre Brust; als die beiden im Swimmingpool plantschen, kommt es fast zum Mord. Um Wahrscheinlichkeit schert sich die Regisseurin dieser wüsten Kolportagestory aus den Showkulissen fast überhaupt nicht, aber das stört eigentlich nur im Finale - bis dahin ist "Backstage" rasanter Kino-Rock'n'Roll.

Ebenfalls außerhalb des Wettbewerbs lief Tim Burtons und Mike Johnsons Trickfilm "Corpse Bride", ein großartiges und vom Publikum gefeiertes Liebesmärchen um einen jungen Helden im Reich der Toten, der sich die Freigabe von einem Hochzeitsschwur erkämpfen muss - fast so hinreißend (aber nicht halb so verrückt) wie Burtons aktuell in den Kinos laufendes Werk "Charlie und die Schokoladenfabrik".

So, und jetzt lasst uns noch ein wenig über den neuesten China-Heuler "Everlasting Regret" von Stanley Kwan schimpfen: Der 1957 in Hongkong geborene Regisseur erzählt in dieser Verfilmung eines höchst erfolgreichen Romans die Geschichte einer schönen Frau aus Shanghai, die immer nur von den Männern ihres Lebens betrogen wird. Das alles ist so deliziös und mit schönen Menschen inszeniert wie seinerzeit Wong Kar-weis "In The Mood For Love", aber trotzdem nicht halb so packend und höchstens ein Viertel so elegant. Tatsächlich ist es sogar sturzlangweilig. Und immer wieder staunt man über die Banalitäten, die da, soweit es die Untertitel ahnen lassen, gesprochen werden.

Es sind immer die gleichen hohlen Sätze in den gleichen süßlichen Bildern zur gleichen schwelgerischen Musik. "Everlasting Regret" ist ein Film, der sich über ein halbes Jahrhundert hinstreckt und so tut, als sei er ein historisches Lehrstück; und doch wird in diesem Kitschfetzen mit detailversessener historischer Ausstattung die Veränderung der Welt gerade nicht sichtbar gemacht.
(www.spiegel.de)

Verfasst: Mi 14. Sep 2005, 16:08
von Detlef P.
"Brokeback Mountain" hat übrigens den goldenen Löwen als besten Film bekommen.
Ich hab´s ja gewusst, Ang Lee lässt uns nicht im Stich.

Verfasst: Mi 14. Sep 2005, 17:15
von Murillo
Hier noch einmal alle Presiträger:

* Goldener Löwe für den besten Film: "Brokeback Mountain" von Ang Lee
* Großer Preis der Jury: "Mary" von Abel Ferrara
* Spezialpreis für die beste Regie: "Les Amants réguliers" von Philippe Garrel
* "Coppa Volpi" für den besten Schauspieler: David Strathairn in "Good Night, and Good Luck"
* "Coppa Volpi" für die beste Schauspielerin: Giovanna Mezzogiorno in "La bestia nel cuore"
* Marcello-Mastroianni-Preis für die beste schauspielerische Nachwuchsleistung: Menothy Cesar in "Vers le sud"
* Preis für den besten Kurzfilm: "Xiaozhan" von Lin Chien-ping
(www.heute.de)